Jiddu Krishnamurti „Vollkommene Freiheit“
Das Problem der Angst
Wenn ein einziger Mensch von Grund auf das Problem der Angst versteht und es löst, nicht morgen oder zu irgendeinem späteren Termin, sondern sofort, dann wirkt sich das auf das gesamte Bewusstsein der Menschheit aus. Das ist eine Tatsache. Wie wir schon sagten, Ihr Bewusstsein ist nicht Ihr privates Eigentum, es ist das Ergebnis der Zeit, von Tausenden von Begebenheiten und Erfahrungen, die vom Denken zusammengetragen wurden. Dieses Bewusstsein ist in ständiger Bewegung. Es ist wie ein Strom, ein riesiger Fluss, von dem Sie ein Teil sind. Es gibt also keine Vereinzelung; und wenn Sie es sich einmal gründlich überlegen, gibt es auch keine Individualität. Das mag Ihnen nicht gefallen, aber betrachten Sie es einmal. Unter einem Individuum versteht man ein Wesen, das ungeteilt, unteilbar ist, das nicht fragmentiert, nicht gespalten, sondern ein vollständiges Wesen ist. Doch leider sind die meisten von uns fragmentiert, gespalten, in sich uneinig wie der Rest der Welt – unglücklich, bekümmert, verwirrt, elend, leidend, furchtsam.
Wir werden nun gemeinsam die Frage der Angst untersuchen und ob sie ein Ende haben kann. Wir werden es gemeinsam tun. Die Angst kann sehr unbedeutend sein, sie kann aber auch eine ungeheure Belastung sein. Da ist die Angst, einen Job zu verlieren, die Angst, nicht erfolgreich zu sein, die Angst vor dem Tod, die Angst nicht geliebt zu werden, die Angst vor der Einsamkeit, vor Isolation, die Angst, nicht das Richtige zu tun, oder die Angst, mit der Masse zu laufen, oder die Angst, mit der Masse zu laufen oder den Anschluss an sie zu verpassen. Sie wissen, was Ängste sind. Der Mensch war nie imstande, innerlich frei von Angst zu sein. Die Angst hat seinen Geist beschwert, seine Sicht verdüstert. Er weiß nicht, wie er mit diesen Ängsten umgehen soll; deshalb flieht er vor ihnen in Gewalttätigkeit, Brutalität, Arroganz und Bitterkeit.
Was ist die tiefste Ursache der Angst? Bitte, prüfen Sie sich selbst. Benutzen Sie die Worte als einen Spiegel, um ihre eigene Angst zu entdecken, und während Sie beobachten, finden Sie ihre Wurzel – nicht die Zweige, die Blätter, die Geringfügigkeiten der Angst, sondern die fundamentale Ursache der Angst. Denn wenn psychisch, im Innersten, Angst herrscht, dann wird jedes Handeln verzerrt, und es gibt keine genaue, klare Beobachtung.
Was ist die Wurzel der Angst? Ist es die Unfähigkeit, innerlich, psychisch, vollkommene Sicherheit zu finden? Vollkommene, totale Gewissheit und Sicherheit? Ist es die Suche nach etwas Beständigem, nach etwas, das andauern, das bleiben wird, das endgültig ist? Ist es die Ungewissheit des Nichtsseins? Wir wollen zunächst einmal prüfen, ob es eine psychische Sicherheit gibt. Denn vielleicht suchen wir psychische Sicherheit und verursachen gerade damit Unsicherheit in der Außenwelt. Was ist Sicherheit, psychisch innerlich? Was meinen wir damit, sicher zu sein, feste, gewisse, bleibende unerschütterliche, unverrückbare Sicherheit zu haben, so dass nichts sie erschüttern und zerstören kann? Ist es das, was Sie in der Beziehung zueinander suchen? Vollkommenes Wissen zu besitzen und sich darauf verlassen zu können, dass dieses Wissen uns Sicherheit verleiht? Das bedeutet, Beständigkeit zu suchen, etwas, das durch nichts verändert werden kann, und deshalb Ewigkeit im Sinne des Endens der Zeit.
Ist also Zeit einer der Faktoren der Angst? Es gibt die Zeit nach der Uhr, die Zeit als Gestern, Heute und Morgen. Chronologische Zeit ist notwendig, sie ist da. Gibt es auch eine psychische Zeit? Gibt es für mich, für Sie, psychologisch ein Morgen? Wenn es das nicht gibt, dann ruft es eine ungeheure Angst hervor. Wenn Sie mit der Tatsache konfrontiert sind, dass es psychisch kein Morgen gibt, dann ist Ihr ganzes Fundament erschüttert; denn morgen werden Sie größeres Vergnügen haben, morgen werden Sie besser sein, morgen werden Sie etwas erreichen, morgen werden Sie Ihre Angst loswerden. Gibt es also in der Psyche ein Morgen?
Morgen bedeutet Zeit. Morgen impliziert Denken, das in sich selbst fragmentarisch ist; es hat die psychische Zeit geschaffen, in der Sie sich von dem, was ist, zu dem „was sein sollte“, bewegen. Ist also die Zeit ein Faktor der Angst? Die Zeit existiert. Doch gibt es im psychischen Bereich überhaupt Zeit: das Bemühen, etwas Besonderes zu sein? Oder ist es die Angst davor, nicht zu sein? Was ist dieses ewige Verlangen des „Ich“ nach Selbstverwirklichung, sich Ausdruck zu verleihen, das Verlangen des „Ich“ und des „Du“, das Ego? Befassen Sie sich damit, denn es ist Ihr Leben! Wenn Sie das verstehen und frei von Angst sind, dann öffnen Sie das Tor zum Himmel.
Was ist dieses „Ich“, das sagt, „Ich muss sein“, „Ich muss meditieren“, „Ich muss Gott finden“, „Ich muss erkennen“, „Ich muss glücklich sein“, „Ich bin einsam“, „ich muss erfolgreich sein“, „Ich habe Angst“, „Ich muss es wissen“? Es ist nicht der Name, Mr. Soundso, nicht die Form, die Form des Körpers, den Sie im Spiegel sehen, und all die damit verbundenen Erinnerungen, all die Vorstellungen über sich selbst. Es ist nicht das Bild, das man von sich selbst hat, das Bild, das sagt: „Ich bin viel besser als du.“ Sind sie nicht alle vom Denken aufgebaut worden? Das Denken selbst ist ein Fragment, und die Aktivität dieses Fragments ist nicht nur das „Ich“, sondern die Fragmente, die es überall um Sie her geschaffen hat – getrennte Nationen, getrennte Gesellschaftsklassen, Kriege, alles, was dazu gehört. Und das Denken ist ein materieller Prozess in der Zeit. Das Denken ist die Reaktion der Erinnerung, der Erfahrung, des Wissens, die im Gehirn gespeichert ist.
So ist also das „Ich“, an das wir uns klammern, frei erfunden. Das könnte die tiefste Ursache der Angst sein -, dass man sich an etwas klammert, das nicht existiert. Da ist also das erfundene, eingebildete Ich, ein Bild, ein Symbol, eine Idee, eine Vorstellung, vom Denken innerhalb der Zeit aufgebaut, und das ist ein materieller Prozess, ist ein Vorgang des Messens. Und dieses „Ich“, das sich seiner bloßen Existenz im Innern, in den Tiefen des Seins nicht sicher ist, könnte die tiefe fundamentale Ursache der Angst5 sein. Das bedeutet nicht, dass Sie nicht in dieser Welt6 leben können, wenn Sie kein „Ich“ haben. Ganz im Gegenteil.
Können Sie nun die Bewegung der Zeit beobachten? Zeit ist Bewegung. Diese Bewegung endet, wenn man der Zeit ein Ende setzt. Das ist einer der wichtigsten Faktoren der Meditation, dass die Zeit in der Psyche ein Ende findet. Tief verwurzelte Angst ist somit die Bewegung des Denkens in der Zeit, ein materieller Prozess, der eine künstliche Struktur, „Ich“ genannt, geschaffen hat. Und nachdem es sie geschaffen hat, klammert es sich an sie. Das Denken klammert sich an ein Fragment, das es selbst geschaffen hat, und das Denken selbst ist ein Fragment. In den Beziehungen herrscht Angst, denn in den Beziehungen haben wir die Vorstellung von Du und Ich geschaffen. Der Mann und die Frau haben jeder ein Bild vom anderen, ein Bild, ein Symbol, von der Zeit aufgebaut in vielen Tagen, vielen Jahren oder auch in einer Stunde. Und ihre Beziehung spielt sich zwischen diesen beiden Bildern ab. Beobachten Sie das genau, und Sie werden sehen, wie wahr es ist. Wir5 klammern uns an das Bild, an die Vorstellung, und wir haben angst, diese Vorstellung zu verlieren. Also sind wir gezwungen, einander vollkommen anders zu betrachten, wenn es keine Vorstellung mehr gibt.
Wir haben mit Worten das Wesen, die Qualität, die Struktur dieser Sache beschrieben, die wir Angst nennen. Wenn Sie nun wissen, dass die Beschreibung nicht das Beschriebene ist, können Sie dann die Tatsache betrachten und nicht die Beschreibung? Können Sie sie betrachten? Das heißt, können Sie sie beobachten?
Es ist sehr wichtig, beobachten zu lernen. Es gibt eine Kunst des Beobachtens. „Kunst“ bedeutet, die Dinge an ihren richtigen Platz zu stellen, alles dorthin zu stellen, wo es hingehört. Können Sie dieses Etwas beobachten, das man Angst nennt? Sind Sie der Beobachter, verschieden von der Sache, die Sie beobachten? Wenn Sie zornig sind oder neidisch oder eifersüchtig oder was auch immer, sind Sie dann verschieden von diesem Gefühl, dem wir die Bezeichnung „Eifersucht“ gegeben haben? Oder sind Sie selbst die Eifersucht? Dann ist der Beobachter das Beobachtete. Um es anders zu sagen, ist der Denker verschieden von seinen Gedanken? Oder wieder anders, ist der Erfahrende verschieden von der Erfahrung? Wenn er nicht verschieden ist, warum suchen Sie dann Erfahrungen? Wenn es keinen Unterschied zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten gibt, dann gibt es nur das Beobachtete. Dann gibt es nur noch Denken, nicht den Denker, der verschieden vom Gedachten ist.
Sie wollen Erfahrungen machen. Sie sind gelangweilt von den Erfahrungen, die Sie bereits gehabt haben, den täglichen Erfahrungen von Sex, von diesem und jenem und anderem. Also wollen Sie andere Erfahrungen – die Erfahrungen Gottes, die Erfahrung der Erleuchtung, die Erfahrung mit Jesus, die Erfahrung des Krishna-Bewusstseins. Und Sie haben nie gefragt, wer der Erfahrende ist und ob er verschieden von dem Erfahrenen ist. Sie wollen das Krishna-Bewusstsein erfahren oder das Bewusstsein von Jesus oder etwas anderem, doch um das zu erfahren, müssen Sie3 es erkennen, oder nicht? Das heißt, Sie haben es bereits gekannt. Deshalb ist der Erfahrende die Erfahrung.
Können Sie also die Angst ohne den Beobachter betrachten? Denn Sie sind selbst die Angst, die Angst ist nicht verschieden von Ihnen. Wenn Sie zornig sind, ist dieser Zorn verschieden von Ihnen? Wenn Sie sagen, er ist verschieden, dann versuchen Sie ihn zu kontrollieren, dann versuchen Sie, ihn zu rationalisieren, dann versuchen Sie etwas dagegen zu tun. Doch wenn der Beobachter das Beobachtet ist, dann können Sie nicht das geringste dagegen tun, denn Sie sind es selbst. Dann beobachten Sie die Angst ohne den Beobachter.
Beim Beobachten erkennt man, dass die Angst nicht verschieden von dem Beobachter ist. Wenn der Beobachter das Beobachtet ist, dann geht mit dem, was beobachtet wird, eine fundamentale Veränderung vor sich. Wenn es eine Trennung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten gibt, dann ist in dieser Trennung ein Konflikt. Ich sage, ich muss es loswerden, ich muss es kontrollieren oder fragen, warum ich keine Angst haben sollte, warum ich nicht aus diesen Ängsten heraus neurotisch handeln sollte. Da ist immer Widerspruch, Trennung und folglich ein Konflikt – und das ist eine Verschwendung von Energie. Es ist Energieverschwendung, wenn ein Konflikt besteht, wenn man versucht zu kontrollieren, davonzulaufen, zu jemandem hinzugehen, der mir sagt, wie ich die Angst loswerden kann. Das alles verschwendet Energie. Wenn Sie keine Energie verschwenden – und das geschieht nur wenn der Beobachter das Beobachtete ist -, dann haben Sie diese ungeheure Energie, das was ist, zu verwandeln. Die reine Beobachtung ist die Energie, die das, was ist, verwandelt. Wenn Sie das verstehen, dann werden Sie sehen, dass Sie vollkommen frei von psychischen Ängsten sind.
Wenn Sie mit Ihrem ganzen Verstand und Herzen zugehört haben, dann sind Sie, wenn Sie jetzt aufstehen, frei von Angst. Das heißt, wenn Sie etwas wahrnehmen, dann handeln Sie augenblicklich, und diese Wahrnehmung ist nur möglich, wenn der Wahrnehmende das Wahrgenommene ist, denn dann haben Sie totale Energie. Totale Beobachtung ist nur möglich, wenn kein Beobachter da ist – der Beobachter, der die Vergangenheit ist. Wenn man der Beobachtung diese totale Aufmerksamkeit zuwendet, dann wird das, was beobachtet wird, eine fundamentalen Transformation unterzogen. Kapiert? Tuns Sie es!
Jiddu Krishnamurti Ojai, 10. April 1976
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