Helferlein

Jiddu Krishnamurti

Wie willst du leben?“

Der Denkende und das Denken


Der Denkende und das Denken

Besteht eigentlich eine Beziehung zwischen dem Denkenden und dem Denken, oder existiert nur das Denken und kein Denkender? Wenn keine Gedanken da sind, ist auch kein Denkender da. Und wenn Sie Gedanken haben, existiert dann ein Denkender? Weil es die Flüchtigkeit der Gedanken wahrnimmt, erschafft das Denken den „Denker“, der sich selbst Dauerhaftigkeit verleiht. Das Denken erschafft also den Denkenden, und dieser etabliert sich dann als permanente Wesenheit oder Instanz, die von den Gedanken, die ja ständig im Fluss sind, getrennt ist. Das Denken erzeugt also den Denkenden – und nicht umgekehrt. Der Denkende erzeugt nicht die Gedanken, denn wenn keine Gedanken da sind, ist auch kein Denkender da. Der Denkende trennt sich von seinem Erzeuger ab und versucht, eine Beziehung herzustellen – eine Beziehung zwischen dem so genannten Dauerhaften, also dem vom Denken erschaffenen Denker, und de4m Unbeständigen oder Flüchtigen: dem Denken. Beide sind also in Wirklichkeit flüchtig oder vergänglich.


Verfolgen Sie einen Gedanken einmal bis zu seinem Ende. Denken Sie ihn ganz zu Ende, fühlen Sie sich hinein und finden Sie selbst heraus, was geschieht. Sie werden feststellen, dass da überhaupt kein Denker existiert. Denn wenn das Denken aufhört, ist auch kein Denkender da. Wir glauben, es gäbe zwei Zustände – denn Denkenden und das Denken. Doch diese zwei Zustände sind Fiktion, sie sind gänzlich irreal. Es gibt nur das Denken, und die Masse der Gedanken erschafft das „Ich“, den Denkenden.


Denken ist die Reaktion des Gedächtnisspeichers: der Rasse, der Gruppe, der Familie

Was meinen wir mit „Denken“? Wann denken wir? Denken ist offensichtlich das Resultat einer neurologischen oder psychischen Reaktion, die Reaktion gespeicherter Erinnerungen. Es gibt einerseits die unmittelbare Reaktion der Nerven auf einen bestimmten Reiz, und es gibt die psychische Reaktion auf gespeicherte Gedächtnisinhalte, die Einflüsse der Rasse, der Gruppe, des Gurus, der Familie, der Tradition und so weiter – und all das nennen wir „Denken“. Der Prozess des Denkens ist also eine Reaktion des Gedächtnisses, nicht wahr? Sie hätten keine Gedanken, wenn Sie kein Gedächtnis hätten, und die Reaktion des Gedächtnisses auf eine bestimmte Erfahrung setzt den Denkprozess in Gang.

Was ist der Ursprung des Denkens?

Es ist unschwer zu erkennen, dass alles Denken eine Reaktion auf die Vergangenheit darstellt – die Vergangenheit in Fo0r von Erinnerungen, Wissen, Erfahrungen. Alles Denken ist das Resultat der Vergangenheit, der Vergangenheit – die Zeit ist: das Gestern. Und dieses Gestern, das sich unendlich in die Vergangenheit erstreckt, ist das, was wir als Zeit betrachten: Zeit als Vergangenheit eingeteilt, und sie ist wie ein Fluss, sie fließt. Wir haben sie in diese Fragmente unterteilt und unser Denken ist in diesen Fragmenten gefangen.

Die Erinnerung in Form von Denken hat ihren Platz

Wir sagen nicht, dass das Denken aufhören muss, denn es hat eindeutig eine Funktion. Ohne zu denken könnten wir nicht ins Büro gehen, wir wüssten nicht, wo wir wohnen, wären überhaupt nicht in der Lage zu funktionieren. Aber wenn wir eine radikale, umfassende Bewusstseinsveränderung erreichen wollen, eine grundlegende Veränderung des Denkens, müssen wir erkennen, dass das Denken, welches ja diese Gesellschaft mit ihrem ganzen Chaos erschaffen hat, das Problem nicht lösen kann.

Der Verstand will Sicherheit

Das Denken ist die Essenz der Sicherheit, und das ist es, was der bürgerliche Verstand will – Sicherheit, Sicherheit auf allen Ebenen! Damit eine totale Veränderung im menschlichen Bewusstsein möglich wird, muss das Denken auf einer Ebene aktiv sein und auf einer anderen Ebene nicht. Es muss auf einer bestimmten Ebene ganz normal und natürlich funktionieren, auf der Alltagsebene – physisch, technisch – mit Hilfe von Wissen, aber es darf nicht in einen anderen Bereich einfließen, wo es überhaupt nicht hingehört. Würde ich nicht denken, könnte ich nicht sprechen. Aber eine radikale Veränderung – in mir als Mensch – kann nicht durch Denken stattfinden, weil das Denken nur auf der Ebene des Konflikts funktionieren kann. Denken kann nur Konflikte hervorbringen.

Veränderung wozu?

Der Mensch lebt seit zwei Millionen Jahren oder länger auf der Erde, aber das Problem des menschlichen Leidens hat er bis heute nicht gelöst. Er leidet immer: Das Leiden folgt ihm wie ein Schatten oder wie ein Gefährte. Das Leiden aufgrund der Angst, jemanden zu verlieren oder seine Ehrgeizigen Ziele nicht zu erreichen, das durch Habgier verursachte Leiden, das Leiden an physischen oder psychischem Schmerz, das Leiden unter Schuldgefühlen, das mit Hoffnung und Verzweiflung verbundene Leiden – das war das Los des Menschen, das Los eines jeden Menschen. Und der Mensch hat immer versucht, dieses Problem zu lösen – das Leiden innerhalb seines Bewusstseinsfeldes zu beenden – indem er versuchte, ihm auszuweichen, vor ihm davonzulaufen, es zu unterdrücken, oder indem er sich mit etwas identifizierte, das größer ist als er selbst, oder indem er sich in den Alkohol oder in Liebesbeziehungen flüchtete, indem er alles tat, um dieser Angst, diesem Schmerz, dieser Verzweiflung, dieser ungeheuren Einsamkeit und Langeweile des Lebens zu entkommen – was immer innerhalb dieses Bewusstseinsfeldes abläuft, welches das Produkt der Zeit ist.

Das Leiden kann nicht durch Denken beendet werden

Der Mensch hat also immer das Denken als Mittel gewählt, um sich von seinem Leiden zu befreien – durch richtiges Bemühen, die richtige Denkweise, durch eine moralische Lebensweise und so weiter. Der Einsatz des Denkens war seine Richtschnur – Denken, Intellekt und all das. Aber Denken ist das Ergebnis von Zeit und Zeit ist dieses Bewusstsein. Was auch immer Sie innerhalb dieses Bewusstseinsfeldes tun, kann niemals das Leiden beenden. Ob Sie in den Tempel gehen oder Alkohol trinken – es macht keinen Unterschied. Wenn man also lernt, erkennt man, dass durch Denken keine radikale Veränderung möglich ist, sondern dass sich das Leiden fortsetzt. Wenn man das erkennt, kann man sich in eine andere Richtung bewegen. Ich benutze da Wort „erkennen“ nicht im intellektuellen Sinne, es geht nicht um intellektuelles Verstehen, sondern um ein umfassendes Verstehen dieser Tatsache – der Tatsache, dass das Leiden nicht durch Denken beendet werden kann.

Mit dem leben, was ist

Das heißt, kann man es ohne zu denken anschauen? Das bedeutet nicht, dass man einen Blackout hat, sondern, dass man es einfach anschaut. Und man kann nur schauen, wenn der Blick nicht durch ein „Ich-Gefühl“ getrübt ist. Verstehen Sie? Das bedeutet, es ist eine Tatsache, dass ich gewalttätig bin. Und ich habe die törichte Vorstellung beiseite geschoben, nicht gewalttätig zu sein, denn das ist zu unreif, zu absurd und völlig bedeutungslos. Was ist, ist die Tatsache – dass ich gewalttätig bin. Und ich erkenne auch, dass mein Kampf, mich davon zu befreien, es zu ändern, Mühe kostet und dass bereits dieses Bemühen Teil der Gewalttätigkeit ist. Und dennoch erkenne ich, dass die Gewalttätigkeit vollkommen verändert, umgewandelt werden muss, es muss ein Quantensprung stattfinden.

Aber wie kann man das anstellen? Wenn Sie es einfach beiseite schieben, weil das ein sehr schwieriges Thema ist, werden Sie einen außergewöhnlichen Seinszustand verpassen: eine Existenz ohne Bemühen und deshalb ein Leben in einem Zustand höchster Empfindsamkeit und somit höchster Intelligenz. Und nur diese außergewöhnlich hohe Intelligenz kann die Grenzen und das Maß der Zeit ausloten und darüber hinausgehen. Verstehen Sie die Frage, das Problem? Bisher haben wir immer das Ideal als Mittel oder Antrieb benutzt, um uns von dem, was ist, zu befreien, und das führt zu Widersprüchen, Heuchelei, Verhärtung, Brutalität. Und wenn wir dieses Ideal beiseite schieben, bleiben wir mit der nackten Tatsache zurück. Dann erkennen wir, dass die Tatsache geändert werden muss und dass sie ohne die geringste Reibung geändert werden muss. Jede Reibung, jeder Kampf, jedes Bemühen zerstört die Empfindsamkeit des Geistes und des Herzens.

Was soll man also tun? Man fängt an, die Tatsache zu beobachten – ohne Interpretation, Identifikation, Verurteilung, Wertung -, einfach nur zu beobachten.

Das Wesen des Beobachtens

Ich habe gehört, dass ein Elektron, das von einem Instrument gemessen wird, sich auf eine bestimmte Weise verhält. Wird aber dasselbe Elektron vom menschlichen Auge durch ein Mikroskop beobachtet, dann bewirkt eben diese Beobachtung durch den menschlichen Geist eine Veränderung im Verhalten des Elektrons. Das bedeutet, dass der Mensch, der das Elektron beobachtet, im Elektron ein verändertes Verhalten hervorruft, und dieses Verhalten weicht von dem Verhalten ab, welches das Elektron zeigt, wenn der menschliche Geist es nicht beobachtet.

Wenn Sie eine Tatsache einfach beobachten, werden Sie feststellen, dass sich das Verhalten ändert, wie bei einem Elektron, das beobachtet wird. Wenn Sie die Tatsache ohne jeden Druck beobachten, macht diese Tatsache eine völlige Wandlung durch, eine völlige Veränderung, ganz ohne Bemühen.

Einsamkeit ist, nur im Gefängnis des „Ich“ zu leben

Und Einsamkeit bringt Leid mit sich. Ich weiß nicht, ob Sie je einsam waren: Wenn Sie plötzlich erkennen, dass Sie keine Beziehung zu irgend jemandem haben … und diese Einsamkeit ist eine Art Tod. Wie wir bereits sagten, gibt es nicht nur ein Sterben, wenn das physische Leben endet, sondern auch, wenn es keine Antwort, keinen Ausweg gibt. Das ist auch eine Art von Tod: endlos im Gefängnis der eigenen, egozentrischen Aktivität gefangen zu sein. Wenn Sie in Ihren eigenen Gedanken, Ihrer eigenen inneren Qual, Ihren eigenen abergläubischen Vorstellungen, Ihrer lähmenden täglichen Routine, Ihren Gewohnheiten und Ihrer Gedankenlosigkeit gefangen sind, dann ist das auch ein Tod – nicht nur das Ende des Körpers.

Und man muss auch herausfinden, wie man es beenden kann … es ist möglich, das Leiden zu beenden.

Bewusstheit

Ich denke also, dass unsere Suche nicht auf die Lösung unserer unmittelbaren Probleme ausgerichtet sein muss, sondern, dass wir herausfinden müssen, ob der Geist – sowohl der bewusste Anteil als auch der verborgene, unbewusste, in dem die ganzen Traditionen und Erinnerungen, das Erbe unseres stammesgeschichtlichen Wissens gespeichert sind – all das hinter sich lassen kann. Ich glaube, das ist nur möglich, wenn der Geist fähig ist, einfach bewusst zu sein, ohne irgendwelche Forderungen, ohne irgendeinen Druck – einfach nur bewusst. Ich glaube, das ist eines der schwierigsten Dinge – so bewusst zu sein -, weil wir im unmittelbaren Problem und seiner unmittelbaren Lösung verstrickt sind, und deshalb ist unser Leben sehr oberflächlich.

Richtiges Denken und Bewusstheit

Rechtschaffenes Denken und richtiges Denken sind zwei unterschiedliche Zustände. Rechtschaffenes Denken ist bloße Anpassung an ein Muster, ein System. Rechtschaffenes Denken ist statisch und erzeugt ständig die Reibung des Wählens. Richtiges oder wahres Denken muss entdeckt werden. Man kann es nicht lernen. Man kann es nicht üben. Richtiges Denken ist Selbsterkenntnis von Augenblick zu Augenblick. Diese Selbsterkenntnis existiert in bewusst gelebten Beziehungen …

Richtiges Denken ist nur möglich, wenn man sich jedes Gedankens und jedes Gefühls bewusst ist – und damit ist nicht nur das bewusste Wahrnehmen einer bestimmten Gruppe von Gedanken und Gefühlen gemeint, sondern aller Gedanken und Gefühle.

Denken kann niemals frei sein

Wir müssen also ganz klar verstehen, dass unser Denken eine Reaktion des Gedächtnisses ist – und das Gedächtnis ist ein Automat. Wissen ist immer unvollständig, und alles Denken, das aus Wissen kommt, ist begrenzt, bruchstückhaft, niemals frei. Es gibt also keine Freiheit des Denkens. Aber wir können anfangen, eine Freiheit zu entdecken, die nichts mit dem Denkprozess zu tun hat und in der der Geist sich einfach all seiner Konflikte und aller auf ihn einwirkenden Einflüsse bewusst ist.

Jiddu Krishnamurti

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